Kapitel 1


Die 2,5 ha große Nekropole von Bucy-le-Long „La Héronnière - La Fosse Tounise“ liegt in einem Mäander des Flusses Aisne. Die Fundstelle hat zahlreiche neue Informationen zur Erforschung der Frühlatènezeit geliefert; das Mobiliar lässt auf eine Belegung zwischen Aisne-Marne IIA und IIIC schließen. Von den ursprünglich mehreren hundert Gräbern dieser bedeutenden Nekropole sind nur noch 235 erhalten. Die Chronik ihrer Entdeckung und der Grabungskampagnen, die einander seit fast 100 Jahren - seit den ersten deutschen Untersuchungen in den Schützengräben des 1. Weltkriegs bis hin zu den letzten Studien, die im Rahmen der modernen Präventivarchäologie durchgeführt werden - ablösen, dokumentiert diesen Teil der Geschichte der Archäologie im Tal der Aisne.


Kapitel 2


Die Bestattungsbräuche sind die gleichen in der gesamten Aisne-Marne-Kulturgruppe. Der Verstorbene wird in gestreckter Rückenlage bestattet, die Arme längs des Körpers, Abweichungen sind diesbezüglich selten, der Kopf ist nach Nord-Westen gerichtet. Der frei im Raum liegende Tote ist bekleidet und geschmückt, und von seinen persönlichen Gegenständen (Schmuck, Waffen, instrumentum) umgeben, neben ihm sind Speiseopfer in Form von Fleisch sowie Keramikbeigaben niedergelegt.


Kapitel 3


In Bucy-le-Long wurden vier Wagengräber mit Körpergrab und eine monumentale Grabstätte mit Leichenbrand entdeckt. In vier Fällen befanden sich die Grabgruben in zentraler Lage in einer mehr oder weniger komplex ausgestatteten kreisförmigen Umfriedung. Bei der Untersuchung der drei am besten erhaltenen Wagengräber wurde in der Grabstätte jeweils ein zusammengebauter Wagen nachgewiesen; das Pferdegeschirr befand sich funktionsgerecht am Joch. Wie die Wagen gebaut waren, und welche Funktion sie genau hatten, konnte indessen nicht bestimmt werden. Die Hypothesen sind zahlreich, handelte es sich um Prunk- oder Streitwagen, offene Reisewagen oder um einfache Karren?


Obwohl sie sich von den anderen Gräbern durch die Mitgabe eines Wagens unterscheiden, weisen die Depots dieser reichen Körpergräber bezüglich ihrer Organisation grundlegende Gemeinsamkeiten mit den anderen Grabstätten der Nekropole auf: der Verstorbene ruht in gestreckter Rückenlage, er ist geschmückt und von Beigaben umgeben, die im Zusammenhang mit Nahrung, Körperpflege oder Kosmetik stehen. Doch die Leerräume und die effets de paroi, Wandeffekte , sind in den Gräbern mit Wagen zahlreicher und zeugen von dem ursprünglichen Reichtum organischer Beigaben. Ohrringe, Ring und Goldfibeln findet man ausschließlich in diesen Grabstätten.


Brandgräber bilden in dieser Nekropole die Ausnahmen, denn dieser Bestattungsritus wurde nur zweimal nachgewiesen. Eines der Brandgräber ist aufgrund seines wiederholt umgestalteten Grabbaus einmalig. In dieser monumentalen Grabstätte wurde als metallene Grabbeigabe nur ein großes Eisenmesser gefunden, dagegen konnte eine beeindruckende Menge an Fleischstücken und Gefäßen nachgewiesen werden.


Kapitel 4


Bei der taphonomischen Analyse wurden Spuren von Beinkleidern oder Schuhen nachgewiesen, was bestätigt, dass die Toten bekleidet bestattet worden waren. Die anhand der Analyse der Sterblichkeitsstruktur sämtlicher Phasen erkennbaren Sterblichkeitsverhältnisse scheinen darauf hinzuweisen, dass hier eine Bevölkerungsgruppe vorliegt, bei der junge Erwachsene überwiegen, mit einer leicht erhöhten Sterblichkeitsrate bei den Männern unter 30 Jahren und demzufolge einem bedeutenden Mangel an älteren Individuen. Alle Altersklassen sind vertreten, außer Säuglingen bis zu einem Jahr. Während man eine relative Stabilität der Sterblichkeitsstrukturen für die ersten drei Phasen der Belegung des Gräberfeldes beobachtet, zeichnet sich die letzte Phase durch eine erhöhte Anzahl noch nicht ausgewachsener Individuen aus. Der gesundheitliche Zustand dieser Bevölkerung scheint zufrieden stellend gewesen zu sein, Verletzungen sind sehr selten und ausschließlich häuslichen Ursprungs; es gibt keinen Hinweis auf eine Kriegspathologie.


Kapitel 5


Das reiche Fundmaterial dieser Nekropole hat neben einer morphologischen Klassifizierung die technologische und/oder funktionale Untersuchung mehrerer Materialkategorien ermöglicht. Die hohe Anzahl an Keramikgefäßen offenbart eine Vielfalt an Formen und Dekoren, die eine funktionale und soziale Analyse dieses Mobiliars ermöglicht. Auch der Schmuck weist ein großes Formenspektrum auf und seine Klassifizierung berücksichtigt zugleich morphologische und technische Kriterien, die die technologische Entwicklung des Bronzehandwerks zu Beginn der jüngeren Eisenzeit dokumentieren. Die Analyse der Gegenstände aus Gold erlaubt es, die technische und formale Entwicklung der Goldschmiedekunst zu erfassen, daneben konnten auch die Techniken der Glasbearbeitung untersucht werden. Die Untersuchung der Bewaffnung trägt dazu bei, eine technische und funktionale Entwicklung der militärischen Ausrüstung herauszustellen. Speiseopfer werden in Form von zweifellos mit Nahrung gefüllten Gefäßen dargebracht, die oft von Tieropfern begleitet sind. Man beobachtet eine gewisse Vielseitigkeit der Tierarten und der dargebrachten Fleischstücke, die in Bezug auf Quantität und Qualität variieren. In allen Fällen scheint man den Verstorbenen aber nur Stücke mitgegeben zu haben, die gewöhnlich auch von den Lebenden verzehrt wurden.

Kapitel 6


Die Anzahl und die reiche Ausstattung der Gräber haben es ermöglicht, eine detaillierte interne Chronologie der Nekropole zu erstellen, die sich in fünf aufeinander folgenden Phasen artikuliert, welche sich wiederum mit der Chronologie der Aisne-Marne-Kultur decken. Diese Parallelen zeigen neben zahlreichen Übereinstimmungen hinsichtlich der Typologie gewisse lokale Eigenheiten. Die verschiedenen Befunde legen eine Belegungsdauer von etwas über 150 Jahren zwischen dem zweiten Viertel des 5. Jahrhunderts und dem letzten Viertel des 4. Jahrhunderts v.u.Z. nahe. Die termini ergeben für jede Phase eine mittlere Belegungsdauer von etwa 30 Jahren, d.h. einer Generation. Diese fünf Phasen sind keine in sich geschlossenen, hintereinander bestehenden „monolithischen“ Einheiten, sondern sie lassen eine kontinuierliche Entwicklung ohne jegliche Unterbrechung erkennen. Dieser Eindruck von Kontinuität wird überdies durch zwei weitere Phänomene akzentuiert: durch die Vererbung von Schmuckstücken und durch bestimmte Keramikkategorien, die sich im Laufe der Zeit kaum verändern. Die Keramik ist durchaus mit der anderer zeitgenössischer Nekropolen vergleichbar. So erscheinen in der zweiten Phase klassische Knickwandgefäße mit zunehmend ausgeprägten Profilen. Die beiden letzten Phasen zeichnen sich durch das Verschwinden der Knickwandgefäße mit Hals zugunsten runder Formen aus, sowie durch das Auftauchen von Pokalen mit Hohlfuß und für die Mittellatènezeit typischer S-förmig profilierter Gefäße mit auskragender Schulter. Beim Schmuck stellt man einen stark ausgeprägten Konservativismus zugunsten zusammengedrehter Halsringe fest, die Nekropole von Bucy-le-Long besitzt übrigens die bedeutendste Sammlung von Schmuckgegenständen dieser Art. Mit dem Wachsausschmelzverfahren hergestellter Schmuck taucht erst deutlich später, nämlich in der letzten Belegungsphase, und in kleiner Anzahl auf. Auch die Armringe und Fibeln weisen neben Konstanten eine eigene stilistische Genese auf. Die Bewaffnung entwickelt sich weiter, doch mehr in funktionaler als in stilistischer Hinsicht. Die Dolche der frühen Phasen werden nach und nach durch Schwerter ersetzt, die einem im Einflussbereich der Latènekultur weit verbreiteten Standard entsprechen, dies gilt insbesondere für die Scheide aus verziertem Metall. Das Werkzeug verändert sich nicht wesentlich.


Bei der Analyse der Nekropole wird ein radikaler Wechsel ihrer räumlichen Struktur erkennbar. Die Gruppierungen der Grabstätten der ersten drei Phasen, deutlich abgegrenzt, mit familiärem Charakter und um eine Nord-Süd-Achse organisiert, werden ab der vierten Phase durch Grabstätten abgelöst, die locker verteilt und in West-Ost-Richtung orientiert sind. Die Frauengräber scheinen für die Strukturierung des Raumes eine bedeutende Rolle zu spielen, man findet sie einerseits mit Wagen in den Randbereichen und andererseits weit außerhalb der traditionellen Plätze; in den Phasen 3 und 4 erschließen und begrenzen diese Gräber im Osten und im Westen neue Grabzonen.


Kapitel 7


Die verschiedenen Etappen in der Entwicklung der Bestattungssitten dieser Gemeinschaft werden durch die Beschreibung der Grube, des Körpers und der Grabbeigaben aufgezeigt. Der Verstorbene wurde mit seinem Grabgewand bekleidet ins Grab gelegt und war umgeben von bestimmten, ihrer Funktion entsprechend positionierten Beigaben. Nachdem der Körper hergerichtet war, wurden die Speiseopfer und verschiedenen Gegenstände ausgewählt, von denen einige mit Tätigkeiten, wie Körperpflege und Nähen, in Verbindung zu bringen sind. Kriterien wie Familienbande, Geschlecht oder soziale Stellung scheinen eine Rolle gespielt zu haben, sowohl was die Kleidung und die niedergelegten Gegenstände angeht, als auch die Grabgrube selbst bezüglich ihrer Form und ihrer Lage innerhalb des Friedhofs. Die Beobachtung dieser Kriterien, die sich während der ganzen Belegungszeit der Nekropole je nach Geschlecht und Status des Verstorbenen wandeln, ermöglichen Schwankungen bezüglich des Grades der sozialen Hierarchisierung zu beobachten.


Kapitel 8


Die Entdeckung der Nekropole im Jahr 1915 durch deutsche Soldaten, die am Fluss Verteidigungsgräben aushoben, kann mit Ironie als die erste « Präventivgrabung » des Aisne-Tales angesehen werden. Anhand der Archive des Museums für Vor- und Frühgeschichte in Berlin können die Zügigkeit der Durchführung der Grabung sowie die Qualität der Dokumentation dieser archäologischen Forschungen von deren Meldung an die zuständigen Militärbehörden bis hin zur Ankunft des Fundmaterials zweieinhalb Monate später im Museum verfolgt und gewürdigt werden. Die sorgfältige Ausgrabung von etwa dreißig Gräbern durch einen Archäologiestudenten namens Hans Niggemann ermöglicht es sogar, den unwiderruflichen Verlust von Informationen durch die Zerstörungen der Jahre 1971-1972 wenigstens teilweise auszugleichen. Das im Museum in Berlin aufbewahrte Grabungsjournal, die Zeichnungen und das Fundmaterial liefern für den zerstörten Bereich der Nekropole nämlich wertvolle räumliche und chronologische Angaben, welche den Friedhof sowohl in topologischer als auch in chronologischer Hinsicht eingrenzen.


Schlussfolgerung


Obwohl die Nekropole von Bucy-le-Long zahlreiche Gemeinsamkeiten mit den anderen gut dokumentierten Friedhöfen der Aisne-Marne-Kultur aufweist und damit zu deren Kenntnis einiges beiträgt, unterscheidet sie sich von diesen doch durch einige lokale Eigenheiten, die man wohl auf ihre Lage im äußersten Westen des Einflussbereiches dieser Kulturgruppe zurückführen kann. Diese dem Friedhof von Bucy-le-Long eigenen Ähnlichkeiten und Unterschiede, die ihm eine Sonderstellung innerhalb der Aisne-Marne-Kultur einräumen, sollten unbedingt in die allgemeine Untersuchung der laténischen Gesellschaften des Pariser Beckens im 5. und 4. Jh. v.u.Z. mit einbezogen werden.