Die Hauptziele der Action Collective de Recherche Quinze ans d’archéologie préventive bestanden darin, die wichtigsten Ergebnisse der zahlreichen Ausgrabungen zu präsentieren, die von 1989 bis 2003 im Rahmen der archäologischen Vorerkundung an den Großbaustellen der Autobahnen A28, A16 und A29 durchgeführt wurden. Das letzte chronologische Kapitel befasst sich hauptsächlich mit den frühmittelalterlichen Siedlungen, da die Zeugnisse nach dem 12. Jahrhundert sehr selten sind, was übrigens eine regionale Besonderheit darstellt. Die Seltenheit der Funde und Befunde aus dem Hoch- und dem Spätmittelalter kann durch die Tatsache erklärt werden, dass die Autobahnen die heutigen Dörfer möglichst umgehen, was wiederum beinhaltet, dass  die Entstehung dieser traditionellen dörflichen Siedlungen sehr weit zurück liegt und wohl im Frühmittelalter zu suchen ist. Und tatsächlich ist der Übergang von den isolierten Einzelhöfen, großen landwirtschaftlichen Gütern, den antiken villae zu den dörflichen Siedlungen und dem für die Picardie so charakteristischen openfield in den ersten Jahrhunderten des Frühmittelalters zu beobachten. 

Erst für das 6. Jh. verfügen wir über eine umfangreiche archäologische Dokumentation. Das nicht genau zu bestimmende Ende der Periode liegt zwischen der Mitte des 11. Jh. und dem Beginn des 12. Jahrhunderts und ist der Abschluss eines sowohl durch archäologische als auch historische Quellen gut dokumentierten Prozesses der Umstrukturierung der ländlichen Siedlungen, den ein bemerkenswerter Aufschwung der ländlichen Gegendenbegleitet. Der große Kontrast zwischen den verstreuten Einzelsiedlungen der Antike und den hochmittelterlichen geschlossenen dörflichen Siedlungen vermittelt eine Vorstellung vom Ausmaß der Wandlungen, die sich in den ländlichen Gegenden der Picardie zwischen der Spätantike und dem Ende des Frühmittelalters vollzogen haben. Das Corpus dieses Kapitels besteht aus 20 Fundplätzen. Das Spektrum der frühmittelalterlichen Befunde beschränkt sich auf maximal 10 Typen. Im Wesentlichen handelt es sich um Pfostenlöcher, die praktisch die einzigen Zeugnisse ebenerdiger Bauten darstellen. Die Konstruktionen bestehen fast ausnahmslos aus vergänglichen Materialien, hauptsächlich aus Holz und Strohlehm. Steinbauten sind Gebäuden mit Sonderstatus vorbehalten (das einzige Beispiel des Corpus ist ein Sakralbau in Saleux). Die Rekonstruktion der Baupläne anhand der Verteilung der Pfostenlöcher ist eine heikle Aufgabe, deren Schwierigkeiten oft unterschätzt werden. Die Interpretation wird oft durch jüngere Störungen der Schichten erschwert oder es ergeben sich aus der Überlagerung aufeinanderfolgender Bauten mehrere konkurrierende Hypothesen. Grubenhäuser, Silos, Herdstellen, Brunnen, Teiche und Abbaugruben stellen weitere sehr häufige Strukturen der frühmittelalterlichen Siedlungsplätze dar. 

Bestattungen sind in Saleux dokumentiert, wo der Friedhof mit an die 1 200 Gräbern vollständig ergraben wurde. Anderswo sind Bestattungen Randerscheinungen, Gräber in kleinen Gruppen oder einzelnen Grabstätten innerhalb oder am Rand der Siedlungsplätze. Die Häufigkeit solcher kleinen Grabgruppen führt heute dazu, sie nicht als Anzeichen des Ausschlusses sondern als ein Bestandteil der Bestattungssitten dieser Zeit zu betrachten, im gleichen Masse wie die organisierten Friedhöfe, selbst wenn es praktisch unmöglich ist die Gründe dieser Wahl zu kennen. Dagegen weisen auf einigen Fundplätzen bestimmte Gräber sehr wohl Wesenszüge von Separatbestattungen auf „Gräber ausgeschlossener Verstorbener“ oder Katastrophenopfer. Die Bestattungsgesten sind sehr unterschiedlich. Die Orientierungen, die Positionen der Individuen und die Bestattungsweisen sind chaotisch.

Die zufällig bei den Bauarbeiten entdeckten Fundplätze weisen eine große Vielfalt an schwer einzuordnenden Formen und Situationen auf. Zudem vermitteln die Ausgrabungen nur von einem teils sehr begrenzten Teil des Fundplatzes eine Vorstellung. Ein typologischer Ansatz stößt schnell an seine Grenzen, weil das Corpus zu beschränkt ist, um sich für eine Klassifizierung der Siedlungsplätze nach den signifikanten Eigenschaften der unterschiedlichen Siedlungsperioden zu eignen. Drittens erweist es sich als schwierig eine Chronologie der Siedlungen zu erstellen, da nicht genug Funde zur Verfügung stehen und diese zudem noch relativ unbekannt sind. Ein paar allgemeine Tendenzen zeichnen sich jedoch ab. Sie verfolgen global eine gemeinsame Entwicklung, in der drei oder vier große chronologische Phasen unterschieden werden können.

Die Spätantike zeichnet sich durch einen Bruch in der Nutzung der Flächen aus. Die meisten gallorömischen Siedlungsplätze, die den ersten Invasionen Ende des 3. Jahrhunderts standgehalten hatten, werden in den ersten Jahren des 5. Jahrhunderts aufgegeben. Die Ruinen dieser Plätze sind im Frühmittelalter mitunter erneut bewohnt, doch ein Bruch in der Siedlungskontinuität ist überall zu beobachten. Der Hiatus dauert in den meisten Fällen ein oder zwei Jahrhunderte an. Bei der Hälfte der frühmittelalterlichen Siedlungsplätze scheint es sich eher um Neugründungen zu handeln, die einzige Verbindung mit der Antike bietet dabei der landschaftliche Rahmen: die antiken Wege, erkennbar an den Aushubgräben beiderseits der Fahrbahn oder den Parzellengräben. Die Reste aus den beiden merowingischen Jahrhunderten sind zu selten oder nicht eindeutig genug, um sich ein Bild von diesen Siedlungen zu machen. Das Ende des 7. Jahrhunderts stellt mit der Aufgabe der Friedhöfe auf dem offenen Land wiederum eine bedeutende Wende für die ländlichen Gebiete dar. Es ist nicht nötig auf dieses Phänomen zurückzukommen. Es ist jedoch bemerkenswert, dass dieser Bruch in den Siedlungen dieser Periode weniger deutlich erkennbar ist. Die beobachteten Wandlungen geschehen schrittweise. Die ein oder eineinhalb Jahrhunderte früher gegründeten Siedlungen bestehen überwiegend weiter. Im Laufe des 8. und 9. Jahrhunderts werden sie vielleicht wegen der zunehmenden Bevölkerungsdichte einer strikteren Raumplanung unterzogen. Die anschließende Periode zwischen der Mitte des 9. und dem Ende des 10. Jahrhunderts ist noch schwer fassbar. Sie zeichnet sich durch die ansteigende Anzahl der Aufgabe von Siedlungsplätzen aus. Es ist nicht auszuschließen, dass neue Siedlungen gegründet werden. Andernorts setzen sich die in der vorangegangenen Periode erkennbaren Tendenzen fort und entwickeln sich weiter. Es gibt Anzeichen für eine intensivere Bodenbewirtschaftung und eine zunehmende Strukturierung der wirtschaftlichen Aktivitäten. Die Zunahme der Grubenhäuser mit Spuren von Webstühlen, die Gruppierung der Silos und der Öfen in gesonderten Bereichen, die Nutzung der Wasserkraft durch Mühlen und die Metallurgie zeugen vom Aufschwung der handwerklichen Tätigkeiten in dieser Zeit.

Nur wenige der Siedlungsplätze unseres Corpus bestehen im 11. Jahrhundert nach den Einfällen der Normannen weiter.

Der Beitrag der Großbauprojekte ist nicht ausschließlich konjunkturbedingt, begrenzt auf den historiographischen Prozess der Entwicklung der Disziplin, auf unsere schrittweise Erfassung dieser Siedlungsplätze sowie die Weiterentwicklung der Strategien und der Methoden diese zu untersuchen. Es existieren auch Beiträge, die unwiderrufliche Errungenschaften darstellen. Zu den bemerkenswertesten Erkenntnissen gehört zweifellos die hohe Anzahl von Siedlungen auf den Plateaus, weit ab von den Wasserstellen und vollständig isoliert von den heutigen Siedlungen. Diese Häufigkeit überraschte alle, selbst die Spezialisten. Diese simple Feststellung eröffnet außerordentlich vielfältige Forschungsperspektiven und gibt Anlass zu der Hoffnung, dass die Archäologie in der Erforschung der Genese des traditionellen Dorfes und des openfield eine wichtige Rolle spielen könnte. Die Herausstellung einer greifbaren Entwicklung in der Siedlungsmorphologie, der Funddichte, der räumlichen Organisation, der Anzeichen einer sozioökonomischen Differenzierung sind allesamt unbestreitbare Erkenntnisse, die früher oder später in die Diskussionen der Historiker einfließen werden. Letztere werden vielleicht bedauern, hier weder ausgereifte Synthesen zu vorzufinden noch gesicherte Schlussfolgerungen, doch es war schwierig, sich weiter vorzuwagen. Dieses Corpus ist zwangsweise beschränkt und muss künftig durch die Erkenntnisse anderer Grabungen ergänzt werden. 

Schlagwörter : ACR oder Action Collective de Recherche, Autobahnen und Archäologie, Archäologie in der Picardie, Frühmittelalter, Besiedlung und Siedlungswesen des Frühmittelalters in der Picardie, Entstehung der traditionellen dörflichen Siedlungen, Typologie der Raumplanung und der Bauten des Frühmittelalters, Grubenhäuser, Öfen, Silos, Reihengräber, Bestattungen von Katastrophenopfern.

Traduction : Isa odenhardt-donvez (isa.odenhardt@gmail.com).